Eröffnungsrede Ekaterina Degot
Landhaushof Graz, 19.9.19, 17:00
Meine Damen und Herren, ich begrüße sie herzlich im Grand Hotel Abyss!
Wir tragen den „Abyss“, den Abgrund, in unserem Namen. Er ist unsere Marke und unser Logo. In riesigen Neonlettern thront er auf unserem Dach. Wir führen ihn in unserer Anschrift, und er erwartet Sie überall außerhalb unserer Mauern. Wir wissen in Wirklichkeit nicht, was sich ganz unten in diesem Abgrund befindet, und wir können Ihnen nur davon abraten, es auf eigene Faust herauszufinden. Allerdings laden wir Sie nachdrücklich ein zu einer Übung im joie de vivre, zu einem ausgedehnten Wohlfühlerlebnis mit exquisiten ästhetischen, kulinarischen und kurtouristischen Genüssen, obendrein noch garniert und gesteigert durch den frisson der dunklen, schaudernden Ahnung, dass sich vielleicht da draußen, zur gleichen Zeit, gerade jetzt, eine Katastrophe zusammenbrauen könnte.
Der Abgrund draußen an der Schwelle zu unserem Hotel bringt es leider mit sich, dass dieses jeden Augenblick einstürzen oder sich als bloße Schimäre erweisen könnte – wie kürzlich erst unser Villen-Ableger auf Ibiza, von dem Sie vielleicht aus den Nachrichten erfahren haben: Der stellte sich mitsamt dem Thunfischtatar und dem Champagner und der wunderschönen Millionenerbin, die wir dort ebenfalls aufgeboten haben, bei Lichte und bei Tage leider als ein einziger großer Schmäh heraus. Aber hatten die zahlenden Gäste nicht trotzdem eine Riesengaudi? Und war nicht einfach auch alles zu schön, um wahr zu sein? Genießen Sie unbedingt jeden Tag, als wäre es Ihr letzter!
Ungefähr so könnte sich der Direktor eines imaginären Grand Hotel Abgrund an Sie wenden. Als Direktorin des steirischen herbst kann ich mich seinen Worten nur anschließen. Denn auch wir sind ja famose Produzentinnen und Produzenten von Schmäh, der von den Kunstwerken bleibt, wenn das rauschende Kunstfest vorbei ist. Wir sind ein Festival, und schon die lateinische Wurzel dieses Wortes verweist auf die enge Verbindung nicht nur zu Jux und Tollerei, sondern auch zu Schlemmergelagen, oft im Zusammenhang mit dem Erntedank, also insgesamt zu den sättigenden Genüssen. Gleich nach meiner kurzen Begrüßung und der Performance von Zorka Wollny hier lade ich Sie deshalb ins Grazer Kongresshaus ein, wo von 19:00 bis 21:00 Uhr eine Eröffnungs-Extravaganza stattfinden und selbstverständlich auch Wein gereicht werden wird.
In diesem Jahr geht es dem steirischen herbst um unsere Diktatur des Genießens in Zeiten der Katastrophe. Schon Georg Lukács hat diese seltsame Gemengelage in den 1930er-Jahren ausgemacht. Und er war nicht der einzige, der sich an einer Zeiterscheinung abarbeitete, die anscheinend zum Erbgut des ruhmreichen habsburgischen Kakanien gehörte. Sie hat sich hier in den Künsten wie auch in den Süßigkeiten verewigt, wurde in beiden veredelt und konserviert und ist dennoch – oder gerade deswegen – heute unrettbar aus der Zeit gefallen und politisch zum Untergang verurteilt.
Bei jeder noch so ausgelassenen Feier ist der nächste Abgrund nicht weit. Darauf hat schon Hans Koren bei der Eröffnung des allerersten steirischen herbst im Jahr 1968 mit bemerkenswertem Ernst hingewiesen:
Wir beginnen ein Fest, wir wissen, wie ernst die Stunde ist, die die Weltenuhr gegenwärtig zeigt, wir wissen auch, wie vieles, was in einem Frühling hoffnungsfroh keimt und zur Sonne dringt, in den Gewittern eines Sommers vernichtet werden kann.
Dieses Grundgefühl prägt möglicherweise jedes Festival, das sich zur Gegenwart im Geist einer Zeitgenossenschaft verhält. Prekär und bedrohlich ist Zeit eigentlich per se. Aber die Gegenwart im Besonderen ist ein historischer Moment, in dem wir ernten, was wir gesät haben, und säen, was wir ernten werden. Unsere Zeit ist ein schmaler Grat mit Abgründen der Ungewissheit auf beiden Seiten. Zeitgenössische Kunst will Verantwortung tragen, und dazu muss sie sich diesem Moment auch politisch stellen.
Hans Koren sprach damals von etwas sehr konkret und unmittelbar Politischem: 1968 war eines dieser vielen Jahre mit Flüchtlingswellen und -strömen. Im Sommer durften Bürgerinnen und Bürger der Tschechoslowakei für kurze Zeit über die Grenze und durch Österreich zu den sozialistischen Stränden Jugoslawiens fahren. Viele nutzten diese Chance, sofern sie ein Auto hatten, doch schon Ende August rollten sowjetische Panzer durch Prag, und nicht wenige Urlauberinnen und Urlauber sahen sich genötigt, als politische Flüchtlinge in der Steiermark zu bleiben.
Koren hielt seine Rede genau hier an dieser Stelle, in einem Haus, auf das ich nun für einen Moment Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte. Wir befinden uns im Landhaushof, dem politischen Zentrum des Bundeslands Steiermark und zugleich der ästhetischen Mitte und wahrscheinlich bekanntesten Touristenattraktion in dessen Landeshauptstadt Graz. Der Landhaushof ist einer der schönsten Renaissancebauten Mitteleuropas. Wir sind hier buchstäblich von Kunst umgeben und umstellt. Dieser Bau ist eine Stein gewordene, architektonische und politische Aussage. Er entfernt sich denkbar weit von der bloßen Notwendigkeit eines großzügigen Daches über jemandes Kopf. Er ist ein programmatisches Gebäude. Kunst und Politik sind sein eigentlicher Sinn und Inhalt.
Mit welcher Art von Kunst und Politik haben wir es hier zu tun?
Um ehrlich zu sein, erinnert mich der Landhaushof an eine Karawanserei – ein orientalisches Hotel für Handelsreisende und Pilgernde, das es in der Türkei, im Nahen Osten und bis nach Indien jahrhundertelang gab. Vielleicht liegt diese Assoziation daran, dass ich mich in letzter Zeit allzu sehr auf das Thema Hotel eingeschossen habe. Wie auch immer – jedenfalls hatte so eine Karawanserei meist Bögen und Laubengänge und einen geschlossenen Innenhof. Man konnte darin auch seine Kamele unterbringen und seine Ware verstauen. Die Karawanserei ähnelte einer Burg und war vermutlich dem römischen Kastell nachempfunden. Doch ihre Funktion war eine ganz andere. Sie war offen, nicht geschlossen, und das Geschehen in ihr war charakteristisch für den ständigen Strom des Handels und der weltweiten Beziehungen, auf denen die nahöstlichen und asiatischen Kulturen des Mittelalters gründeten.
Kehren wir zurück nach Graz und schlagen wir uns als erstes die Kamele aus dem Kopf. Wir sind hier in einem durch und durch europäischen Innenhof aus der Renaissance. Auch er war eine Neuinterpretation des römischen Kastells, sollte aber gerade deutlich machen, dass man keine Burgen mehr brauchte. Tatsächlich stand zwar noch das Grazer Schloss, von dem aus man weiter argwöhnisch nach Feinden Ausschau hielt. Der Renaissancearchitektur ging es jedoch um die Aussage, dass der Staat oder die Region oder wer auch immer vor Ort herrschte so mächtig war, dass Wehrbauten überflüssig waren. Dieses Gebäude schützte eigentlich durch seine Zurschaustellung der Herrschaft. Seine klassische Gliederung machte das Gewicht der Welt durch Säulen und Bögen sichtbar. Darin verkörperten sich Stärke und Macht.
Die Bauweise veranschaulicht auch unmittelbar das Prinzip des Stützens. Nur: Wer stützt hier wen? Stützt die Macht die Kunst? Oder doch umgekehrt? Beide ergänzen einander zu einer Fassade der Macht, einem kunstvoll überhöhten Bollwerk gegen die Barbaren, die nicht erst in der Renaissance, sondern schon in der Antike immer den Hintergrund und Kontrast dieser Architektur bildeten. Die Barbaren galt es aus der harmonischen Ordnung auszuschließen. Das Gefühl des Ausschließens und des Ausgeschlossenseins liegt bereits in diesen mathematischen Proportionen. Es ist vielleicht sogar das, was dieses Gebäude so schön, so edel und rein wirken lässt.
Was wir hier rundherum sehen, ist ein Ausdruck des Stolzes auf die europäische Lebensart. Es ist das, was auch die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sich zur Aufgabe gemacht hat: die Bewahrung eben dieser „europäischen Lebensart“.
„Schutz vor wem und wovor?“, können wir fragen. Offensichtlich vor denjenigen, die wegen ihrer Abstammung oder Hautfarbe, wegen ihres Bildungsniveaus oder ihrer kulturellen Gebräuche nicht hierhergehören.
„Worin besteht nun aber diese europäische Lebensart, der alle diese Menschen nicht gerecht werden können?“, können wir weiter fragen. Wir alle kennen die Antwort auf diese Frage. Das Besondere an Europa heute und das, was Europa so anziehend für andere macht, ist die Tatsache, dass es sich hier gut leben lässt, dass Europa besser lebt, besser isst und sich in der Regel besser kleidet als seine Nachbarinnen und Nachbarn. Ein Grund dafür ist übrigens, dass hier noch Reste sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik aus den Nachkriegsjahrzehnten nachwirken, auch wenn wir heute nur noch selten darüber sprechen.
Wir erfreuen uns an einem konsumistischen Lebensstil, um den man uns überall auf der Welt – und nirgendwo mehr als auf der anderen Seite des Abgrunds – beneidet. Dieser sehnsüchtige Neid wird nicht geringer dadurch, dass unser Grand Hotel Abgrund keineswegs einladend wirkt, oder wenn, dann nur für einen exklusiven Kreis von Personen. Eines der Konsumvergnügen, denen man sich im Grand Hotel Abgrund hingibt, ist die Kunst. Sich an der Kunst erfreuen zu können, ist Teil des Epos europäischer Kultiviertheit und beinahe ebenso wichtig wie anständiges Essen mit Messer und Gabel. Das gilt am allermeisten für die zeitgenössische Kunst, für die man nämlich, wie es oft heißt, einiges an Vorbildung und geschultem Geschmack mitbringen muss, nicht anders als für ausgesucht exzentrische oder bittere Speisen wie zu 99 Prozent kakaohaltige Schokolade oder Kaviar.
Messer und Gabel können für manche Menschen und für Kleinkinder eine Gefahr darstellen. Von Leuten, die andere gerne für Kinder halten, hören wir gelegentlich, dass zeitgenössische Kunst und Kultur nicht für alle da seien und dass es doch auch einfachere, traditionellere Formen der Erbauung für größere Bevölkerungskreise geben müsse. Ich höre so etwas nicht gern, muss aber zugeben, dass ich mich andererseits auch vor dem Moment fürchte, an dem zeitgenössische Kunst breitengefördert und ihr Verständnis beim Eingliederungstest für Migrantinnen und Migranten abgefragt werden könnte. Heute fragt man die Bewerberinnen und Bewerber (ich habe den Test selbst mitgemacht), ob sie dafür wären, dass ein Ehemann seine Frau schlagen darf. Warum werden sie eigentlich nicht gefragt, ob man in ein Urinal von Duchamp pinkeln kann? Ein kultivierter Mensch weiß selbstverständlich, dass das er das nicht kann und darf – es sei denn, es handelte sich um die goldene Toilette von Maurizio Cattelan (America, 2016), in die Männer und Frauen tatsächlich pinkeln und dabei in Kenntnis des Verweises auf Duchamps Vorbild den frisson einer aufregenden Grenzüberschreitung erleben dürfen. Wäre das nun der Schlüssel zu einem Zimmer im Hotel Abgrund?
Wie Sie als kultivierte Menschen selbstverständlich wissen, ist ebendiese goldene Toilette vor kurzem aus einem Schloss in England verschwunden. Nun fragt man sich aber: Wurde sie von Kunstkennern geraubt, die wissen, wer Maurizio Cattelan ist, oder von Barbaren aus Russland oder den Emiraten, für die Gold der einzige Wertmaßstab ist und denen jegliches Empfinden für einen künstlerischen Wert abgeht? Indem wir das tun, reagieren wir übrigens genau so, wie es der Künstler, ein gerissener und spitzfindiger Intellektueller, mit seinem künstlerischen Schmäh von vornherein einkalkuliert hat.
Europa definiert sich heutzutage über seinen Hedonismus und sieht sich sogar als Meister darin – selbst wenn dieser Hedonismus besonders kulturviert zu sein hat und obendrein den kenntnisreichen Genuss bitterer Medizin inkludiert. Für mich wiederum ist dieser Hedonismus eine seltsame kulturelle Aneignung orientalistischer Codes. Über Jahrhunderte galt ja der Orient als Hort der Begierden. Die (naturgemäß meist männlichen) Adeligen schwärmten vom Orient und seiner süßen Musik und seinen Baklava, seinen Hammams und Körpersalbungen und Harems als einem Paradies der ultimativen Genüsse und Ausschweifungen.
Vielleicht abgesehen von den Harems sieht sich Europa heute selbst als ein solcher Ort der Lüste, als ein Grand Hotel. Aber diese Sicht Europas auf sich selbst kann sich nur dort ergeben, wo dieses Hotel an einem Abgrund steht. Diese Sicht ist die Sicht von der anderen Seite des Abgrunds, die Sicht derjenigen, die angeblich keinen Zutritt zu unseren Vergnügungen, unseren Festschmausen, unseren Kunst- und anderen Genüssen haben. Das Grand Hotel, für das Europa sich gerne hält, steht nicht am Abgrund. Es ist der Abgrund.
Graz, 19.9.19